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Lenos Verlag
Kaouther Adimi
Was uns kostbar ist
Roman
Aus dem Fransischen
von Hilde Fieguth
Titel der französischen Originalausgabe:
Nos richesses
Copyright © 2017 by Editions du Seuil
Erste Auflage 2018
Copyright © der deutschen Übersetzung
2018 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Lenos Verlag, Basel
Umschlag: Neeser & Müller, Basel
Umschlagfoto: zozzzzo, stock.adobe.com
Printed in Germany
ISBN 978 3 85787 485 7
Die Übersetzerin
Hilde Fieguth, geboren 1944 in Schwabach, lebt seit 1983 in Frei
-
burg i. Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbezogener
Malerei. Seit 2000 freie Literaturübersetzerin; sie hat vor allem Werke
von S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice
Chappaz und Nicolas Bouvier ins Deutsche übertragen; für den Lenos
Verlag übersetzte sie zudem Jean-François Haas, Mahi Binebine und
AJAR.
Die Übersetzerin und der Verlag danken der Schweizer Kulturstiftung
Pro Helvetia für die Unterstützung.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Struk-
turbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
El Biar
ich renne zum Hafen hinab
auf dem Chemin du Télemly
der in der Sonne loht.
Die Rue Charras riecht nach Anisette.
Ich blättere in einem Buch
in den Vraies Richesses.
Frédéric Jacques Temple,
Paysages lointains
Der Tag wird kommen, da werden selbst
die Steine zum Himmel schreien ob des
masslosen Unrechts, das den Menschen die-
ses Landes angetan wurde …
Jean Sénac,
Lettre d’un jeune poète algérien
à tous ses frères
Für die Menschen der Rue Hamani
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Algier, 2017
In Algier angekommen, nehmen Sie eines der steilen
Stsschen, zuerst bergauf, dann bergab. Bald stossen
Sie auf die Rue Didouche-Mourad, über die zahlreiche
Gassen hren wie hundert Geschichten, unweit einer
Brücke, die Selbstmördern und Liebenden gehört.
Nun weiter hinuntergehen, weg von den Cafés und
Bistros, Kleidergeschäften, Gemüsemärkten, schnell,
ohne Halt weiter, nach links abbiegen, dem alten Blu
-
menhändler zulächeln, sich einen Moment an eine
hundertjährige Palme lehnen und nicht dem Polizisten
glauben, dass das verboten sei, mit einer Kinderschar
einem Distelfinken nachjagen und auf die Place de
l’Emir-Abdelkader stossen. Dabei verpassen Sie viel
-
leicht die Milk Bar, so schlecht sind am hellen Tag die
Buchstaben auf der frisch renovierten Fassade zu sehen:
das fast weisse Blau des Himmels und die blendende
Sonne verwischen sie. Sie werden Kinder beobachten,
die auf den Sockel des Abdelkader-Denkmals klettern,
übers ganze Gesicht strahlen und r ihre Eltern po
-
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sieren, die dann die Fotos eilends in den sozialen Netz-
werken posten. Ein Mann steht in einer Tür und liest
rauchend eine Zeitung. Man muss ihn grüssen und
ein paar Worte der Höflichkeit mit ihm wechseln, ehe
man weitergeht, dabei aber nicht vergessen, zur Seite
zu schauen: das silbern glitzernde Meer, das wen
-
geschrei, das ewige, fast weisse Blau. Sie müssen dem
Himmel nachgehen, die user im Haussmann-Stil
vergessen und das ro-Habitat, den Betonhäuser
-
block über der Stadt, hinter sich lassen.
Sie werden allein sein, denn man muss allein sein,
wenn man sich verlieren und alles sehen will. Es gibt
Städte, und diese hier gehört dazu, wo jede Begleitung
eine Last ist. Hier lässt man sich treiben, wie es einem
beliebt, die Hände in den Taschen und mit pochen
-
dem Herzen.
Sie steigen die Strassen hinauf, stossen schwere, nie
verschlossene Holztüren auf, streicheln die Löcher in
den Mauern, die von den Schüssen auf Gewerkschafter,
Künstler, Soldaten, Lehrer, Anonyme, Kinder geblie
-
ben sind. Seit Jahrhunderten geht die Sonne über Al-
giers Terrassen auf, und seit Jahrhunderten morden wir
auf diesen Terrassen.
Nehmen Sie sich die Zeit, und setzen Sie sich auf
eine Treppenstufe in der Kasbah. ren Sie den jun
-
gen Banjospielern zu, erahnen Sie die alten Frauen
hinter den geschlossenen Fenstern, beobachten Sie
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die Kinder, die mit einer Katze spielen, der man den
Schwanz kupiert hat. Und das Blau über den pfen
und zu Ihren Füssen, das Himmelsblau, das in das
Meeresblau gleitet und wie ein Ölteppich ins Endlose
geht. Das Blau, das wir nicht mehr sehen, trotz der
Dichter, die uns einreden wollen, Himmel und Meer
seien eine ganze Palette von Farben und nnten sich
jederzeit mit Rosa, Gelb, Schwarz schmücken.
Vergessen Sie, dass die Wege rotgetränkt sind, dass
dieses Rot nicht abgewaschen wurde und dass mit
jedem Tag unsere Schritte etwas tiefer einsinken. In
der Morgendämmerung, wenn die Verkehrsadern der
Stadt noch nicht von den Autos erobert sind, können
wir in der Ferne die Bombeneinschläge hören.
Aber Sie werden bestimmt die sonnenbeschienenen
Gassen wählen, nicht wahr? Dann kommen Sie end
-
lich in der Rue Hamani an, früher Rue Charras. Sie
suchen die 2
bis
und haben Mühe, sie zu finden, denn
einige Hausnummern fehlen. Da stehen Sie dann vor
einem Schaufenster, auf dem der Satz geschrieben ist:
Ein Mensch, der liest, ist doppelt wert. Sie stehen vor der Ge
-
schichte, der grossen, die die Welt bewegt hat, aber auch
der kleinen, der Geschichte eines Mannes, Edmond
Charlot, der 1936 im Alter von einundzwanzig Jahren
die Leihbuchhandlung Les Vraies Richesses
*
eröffnete.
* Deutsch: Die Wahren Schätze. (alle Anmerkungen von der Übersetzerin)
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1
Am Morgen des letzten Tages. Die Nacht hat sich
beunruhigt zurückgezogen. Die Luft ist dicker, die
Sonne grauer, die Stadt sslicher. Am Himmel hän
-
gen schwere Wolken. Die Katzen liegen auf der Lauer,
mit aufgerichteten Ohren. Der Morgen eines letzten
Tages ist immer wie ein Tag der Schmach. Die weni
-
ger Mutigen unter uns gehen schnell weiter, tun so, als
verstünden sie nichts. Eltern ziehen ihre Sprösslinge,
die neugierig stehen bleiben wollen, am Arm fort.
Zuerst war es sehr ruhig in der Rue Hamani, früher
Rue Charras. Eine solche Stille ist selten in einer Stadt
wie Algier, die immer aufgeregt und laut ist, immer
dabei, zu vibrieren, sich zu beklagen, zu seufzen. Aber
dann war es vorbei mit der Ruhe, als nämlich Män
-
ner das Gitter vor dem Schaufenster der Buchhand-
lung Les Vraies Richesses herunterliessen. Ach ja, seit
den 1990er Jahren ist es ja gar keine Buchhandlung
mehr, damals hat sie der algerische Staat von Madame
Charlot, der Schwägerin des ehemaligen Besitzers,
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übernommen. Es ist jetzt einfach eine Aussenstelle
der Nationalbibliothek Algier. Ein Ort ohne Namen,
vor dem selten einmal ein Passant stehen bleibt. Wir
nennen ihn trotzdem weiterhin die Buchhandlung Les
Vraies Richesses, wie wir auch lange Zeit Rue Charras
statt Rue Hamani gesagt haben. Wir sind die Bewoh
-
ner dieser Stadt, und unser Gedächtnis ist die Summe
unserer Geschichten.
Achtzig Jahre lang hat sie standgehalten!, schreibt
ein eifriger junger Journalist, der herbeigeeilt war, in
ein Notizbuch mit schwarzem Umschlag. Er hat Au
-
gen wie ein Marder, denken wir, und das gefällt uns
gar nicht. Diese Buchhandlung verdient Besseres als
diesen jungen Mann, dem der Karrierist ins Gesicht
geschrieben steht. Kaum Menschen, trister Himmel, triste
Stadt, tristes Eisengitter vor den Büchern, schreibt er in
sein Heft, dann besinnt er sich anders und streicht
triste Stadt aus. Beim Nachdenken legt sich sein Ge
-
sicht in fast schmerzliche Falten. Er ist Anfänger. Sein
Vater, Besitzer eines grossen Kunststoffunternehmens,
war mit dem Chefredakteur handelseinig geworden:
die Einstellung seines Sohnes gegen den Kauf von
Werbebeilagen. Von unseren Fenstern aus beobachten
wir den etwas unbeholfenen Journalisten. Eingeklemmt
zwischen eine Pizzeria und einen Lebensmittelladen befindet
sich die ehemalige Buchhandlung Les Vraies Richesses, in
der einmal berühmte Schriftsteller verkehrten. Er kaut auf

Prix Renaudot des lycéens, Prix du Style, Prix Beur FM Méditerranée, Prix Goncourt Choix de l'Italie

Kaouther Adimi
Was uns kostbar ist

Roman

Aus dem Französischen von Hilde Fieguth


Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-485-7
Seiten 224
Erschienen 31. Mai 2018
€ 22.00 / Fr. 29.80

Eine preisgekrönte Hommage an den ersten Camus-Verleger und die Literatur

Was der ahnungslose Student Ryad bei seinem Ferienjob in Algier vorfindet, ist ein geschichtsträchtiger, einzigartiger Ort: In der Buchhandlung, die er ausräumen soll, wirkte einst Edmond Charlot (1915–2004), der hier 1936 mit Les Vraies Richesses ein blühendes Zentrum der Bücher gründete, Bibliothek, Verlag und Treffpunkt in einem.
Charlot entdeckte Albert Camus, Jules Roy und weitere literarische Grössen des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs galt er als »der Verleger des freien Frankreichs«, namhafte Autorinnen und Autoren gingen bei ihm ein und aus. Trotz politischem Druck, einer Inhaftierung unter dem Vichy-Regime und kriegsbedingtem Papiermangel engagierte er sich unermüdlich für die Literatur. Nach Kriegsende wirkte er in Paris, wo er bald in finanzielle Not geriet und seine Autoren an die grossen Verlage verlor. Doch den Buchladen in Algier gibt es bis heute.

Der jungen algerischen Autorin gelingt mit ihrem preisgekrönten Roman eine Hommage an die Literatur und einen herausragenden Förderer. Lebensnah und einfühlsam skizziert sie in einem fiktiven Tagebuch Edmond Charlots bewegtes Leben. Sie erzählt zudem von einem politisch und kulturell engverwobenen und gleichzeitig zerrissenen Mittelmeerraum in einer turbulenten Zeit. Und sie schlägt den Bogen in die Gegenwart, wo Charlots Welt der Literatur neu zu entdecken ist.

Pressestimmen

Dieses unglaublich schöne Buch ist eine Reise nach Algerien und eine Hommage. An einen Mann und seinen grössten Schatz: die Literatur.
— Annabelle Hirsch, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Ein grossartiger, überwältigender Roman.
— Le Figaro
»Was uns kostbar ist« berichtet hautnah und anschaulich aus dem Leben eines leidenschaftlichen, unerschrockenen Verlegers, den allein die Freiheit des Wortes und die Schönheit der Literatur interessierten. Kaouther Adimi gelingt es in ihrem beeindruckenden Roman, die vielen Fäden, Zeitebenen und Perspektiven ihrer Geschichte in einem winzigen Ladenlokal in der Altstadt Algiers zusammenlaufen zu lassen.
— Cornelius Wüllenkemper, Westdeutscher Rundfunk
Kaouther Adimis Roman ist ein Hohelied auf das Lesen, das Mittelmeer und Schriftstellerfreundschaften jenseits nationaler Begrenztheit. Es schreibt sich im Kopf des Lesers auch nach der letzten Seite weiter fort.
— Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur
Eine unglaublich beeindruckende Arbeit der jungen Schriftstellerin Kaouther Adimi. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Literatur und Zeitgeschehen her und beleuchtet das Zusammenleben zwischen Algeriern und (Algerien-)Franzosen. Gleichzeitig erinnert sie an die vielen Schriftsteller, die Edmond Charlot durch seinen Verlag bekannt und berühmt machte.
— Birgit Agada, AFARA Bücher
Eines der schönsten und überraschendsten Bücher der Saison.
— Martin Gaiser, Radio Free FM
Kaouther Adimis Roman erzählt mitreissend von der Kraft der Literatur; von einer Zeit, in der Schriftsteller massgeblich die Zeitgeschichte mit beeinflussten. Und von den Bergen, die Begeisterung versetzen kann.
— Dina Netz, WDR 5
Nicht nur eine Hommage an Edmond Charlot und die Literatur, sondern auch an Algier, die Geburtsstadt der Autorin.
— Rüdiger von Naso, Münchner Feuilleton
Adimi erzählt die Geschichte eines Verlegers, der sich politischen Opportunitäten, dem Zugriff der Zensur und den Zwängen der Marktwirtschaft konsequent entzog.
— Cornelius Wüllenkemper, Süddeutsche Zeitung